WSI-Berechnungen zum Lohnabstand Wer Vollzeit arbeitet, hat immer und überall Hunderte Euro mehr als im Bürgergeld

2025-08-14     https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/buergergeld-wer-vollzeit-arbeitet-hat-immer-und-ueberall-hunderte-euro-mehr-als-im-buergergeld-a-dd2f5ca5-0182-41cb-a90c-8d850b0f0d11 HaiPress

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Niedriglohnbranche Gastronomie: Im Schnitt 557 Euro mehr als im Bürgergeld,wer zum Mindestlohn in Vollzeit arbeitet

Foto: Sina Schuldt / dpa

Wozu noch aufstehen,wenn es sich im Bürgergeld doch fast genau so gut leben lässt? Dieser Tenor begleitet die zahlreichen Rechenbeispiele,in denen auf den Titelseiten von Boulevardzeitungen oder in Social-Media-Posts die Zahlungsansprüche von Bürgergeldempfängern aufgelistet werden. Umfangreiche Berechnungen geben die Antwort: Weil man selbst mit einem Mindestlohnjob in Vollzeit im Schnitt als Single 557 Euro mehr im Monat an verfügbarem Einkommen hat – also ziemlich genau das Doppelte des Regelbedarfs von derzeit 563 Euro.

Dass Einkommen mit einer Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn deutlich höher als der Regelbedarf ausfalle,gelte für Alleinstehende ebenso wie für Alleinerziehende und Paare mit Kindern,und zwar in allen Regionen Deutschlands,rechnet das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung vor.

Lohnabstand immer und überall mehrere Hundert Euro

Das WSI rechnete mit dem heutigen Mindestlohn von 12,82 Euro pro Stunde. Einbezogen wurde,dass Menschen mit so geringem Lohn gegebenenfalls zusätzlich Anspruch auf Sozialleistungen wie Wohngeld,Kindergeld oder Kinderzuschlag haben. Die Rechenbeispiele beziehen sich auf Arbeit in Vollzeit,was im Durchschnitt knapp 38,2 Stunden pro Woche bedeute.

Gerechnet wurden drei Fallbeispiele:

So kommt ein alleinstehender Mann mit Mindestlohn den Berechnungen zufolge auf 2121,58 Euro brutto im Monat. Davon bleiben nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben 1546 Euro. Zusammen mit dem rechnerischen Anspruch auf 26 Euro Wohngeld ergebe sich ein verfügbares Einkommen von 1572 Euro.

Dagegen stünden dem Mann im Bürgergeld 563 Euro Regelsatz und bei gleicher Miete 451,73 Euro für die Unterkunft zu. Zusammen wären dies 1015 Euro,also 557 Euro weniger als im Job mit Mindestlohn. Wird der Rundfunkbeitrag von 18,36 Euro einbezogen,von dem Bürgergeldbeziehende befreit sind,bleibt den Berechnungen zufolge immer noch eine Differenz von mehr als 500 Euro.

Fall zwei ist eine alleinerziehende Frau mit einem fünfjährigen Kind. Sie käme in Vollzeit mit Mindestlohn auf netto 1636 Euro. Mit Kindergeld,Kinderzuschlag,Wohngeld und Unterhaltsvorschuss seien es 2532 Euro. Beim Bürgergeld wären es laut WSI mit den beiden Regelsätzen für Mutter und Kind,dem Mehrbedarf für Alleinerziehende,Kosten der Unterkunft und Sofortzuschlag 1783 Euro,also 749 Euro weniger.

Drittes Beispiel: Ein Ehepaar mit einem Verdiener mit Mindestlohn und zwei Kindern im Alter von fünf und 14 Jahren hätte im Bürgergeld 660 Euro weniger,haben die Experten kalkuliert.

Regional gebe es Unterschiede beim Lohnabstand,doch die beruhten auf der Höhe der Mietkosten. Im Landkreis München,in Dachau und in der Stadt München falle der Lohnabstand bei einem Single-Haushalt mit 379 bis 444 Euro am geringsten aus. In Nordhausen und dem Vogtlandkreis sei er mit 662 und 652 Euro am größten.

Hier finden Sie die Ergebnisse für alle Landkreise und Städte Deutschlands

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Problem liegt bei Ausweitung bestehender Arbeit

»Die Zahlen dieser Studie zeigen erneut,dass Bürgergeldempfänger*innen unabhängig vom Haushaltstyp und von der Region,in der sie wohnen,weniger Geld haben als Erwerbstätige,die zum Mindestlohn arbeiten«,sagte WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Zudem werde deutlich,mit wie wenig Menschen im Bürgergeld auskommen müssten. »Die Behauptung,sie wollten nicht erwerbstätig sein,weil es sich mit dem Bürgergeld gut leben lasse,ist sachlich falsch und stigmatisierend.«

Statt bei der Höhe des Bürgergelds bestehe Handlungsbedarf bei der Schaffung bezahlbaren Wohnraums,so WSI-Direktorin Kohlrausch. Tatsächlich übernehmen Jobcenter in Hunderttausenden Fällen auch nicht die vollen Wohnkosten von Bürgergeldbeziehenden,jeder achte Haushalt muss deshalb Teile der Miete aus dem Regelbedarf bezahlen.

Hier lesen Sie,wie es sich in einem solchen Fall mit weniger als dem Existenzminimum lebt.

Die WSI-Berechnungen bestätigen die Ergebnisse anderer Untersuchungen. 2023 sagte auch der Chef des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft,Michael Hüther,trotz der damaligen Bürgergelderhöhung bleibe das Lohnabstandsgebot gewahrt.

Anders sieht es hingegen aus,wenn Menschen im Niedriglohnsektor ihren Verdienst erhöhen – etwa durch mehr Arbeitsstunden,wenn sie zuvor in Teilzeit waren,oder durch Lohnerhöhungen. Dann kann es durch den Wegfall der Sozialleistungen wie Bürgergeld,Wohngeld und Kinderzuschlag dazu kommen,dass trotz mehr Brutto weniger Netto zur Verfügung bleibt.

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fdi/dpa

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